Reprogrammierung

Der fundamentalste aller Schritte beginnt mit einer Entscheidung. Der Entscheidung, nicht wegzuschauen, sondern sich selbst mit der Realität zu konfrontieren. Hilfreich ist die wiederholte Auseinandersetzung mit aktuellen Studien und Risikoberichten, die einen klaren Vektor aufzeigen und einen Ausblick darauf geben, wohin wir steuern, wenn wir weiter machen wie bisher. Auch existieren einige ausgezeichnete und leicht verständliche Bücher zur Thematik.[i]

Diese Entscheidung beginnt genau jetzt und hier! Und gleichzeitig ist diese Entscheidung eine von jener Art, um die täglich neu gerungen werden muss. Machen wir uns nichts vor, dies ist harte Arbeit und furchtbar unbequem. Das Realisieren - und zwar nicht vom Kopf her, sondern mit dem Herz - wie es um unsere Welt steht, geht nicht mit schönen Gefühlen einher.

Dieses täglich erkämpfte Aufwachen, das bewusste Entscheiden dafür, sich nicht wegzuducken, sondern genau hinzusehen, führt jedoch zu einer Klarheit, nach der sich unsere verdrängungsgewohnte Psyche sehnt. Wer nicht mehr verdrängen muss, hat plötzlich Energie zur Verfügung, die vorher durch das ständige Beiseiteschieben gebunden war - Energie, die dringend für Lösungen benötigt wird.

Wer wach ist, kann analysieren. Wer wach ist, kann Prioritäten setzen. Und was könnte höhere Priorität besitzen, als der Fokus auf das Abwenden einer drohenden Katastrophe - und nicht nur einer drohenden Katastrophe, sondern der - und hier spricht die Wissenschaft eine klare Sprache - wahrscheinlichsten und in ihren Folgen drastischsten Katastrophe von allen?

Ich persönlich glaube, dass von allen Schritten dieser der mit Abstand wichtigste ist. Wir müssen alle Kraft und unseren Ideenreichtum darauf verwenden, unserer eigene Psyche von Bequemlichkeit auf Realitätsbetrachtung umzuprogrammieren, täglich und solange, bis es uns wieder zur Natur geworden ist. Und um dies zu erreichen, braucht es drei Dinge: Entscheidung, fokussierten Willen und Ausdauer.

Ich möchte zwei einfache Möglichkeiten anführen, durch die in kurzer Zeit eine Veränderung der Selbstwahrnehmung bewirkt werden kann. Durch eine regelmäßige Praxis wird dem Kleiner-Mensch-Syndrom das Wasser abgegraben und seiner gefühlten Armseligkeit die gegenteilige Erfahrung der Selbstermächtigung gegenübergestellt. Es sind dies tägliche Akte der Reprogrammierung, mit denen sich das Syndrom beseitigen lässt.

Die erste Methode lenkt das Bewusstsein bei negativen Nachrichten auf einen konstruktiven Zustand um. Als Schlüssel dienen Medienberichte über den Klimawandel. Die Reprogrammierung besteht darin, diese alarmierenden Nachrichten aktiv als Signal des Aufbruchs zu interpretieren. Sie können für uns der Einstieg sein, uns daran zu erinnern, dass wir uns auf den Weg gemacht haben und uns an das Bewusstsein anschließen, dass wir nicht allein dastehen - wir sind viele und werden täglich mehr.

Die zweite Technik nutzt den Einfluss der Atmung auf unser Nervensystem und sendet ein wünschenswertes Feedback an unsere Psyche. Die Wirksamkeit dieser von Wim Hoff beschriebenen Atemtechnik, die von ihm zur Überwindung von fest geglaubten Grenzen der menschlichen Physiologie eingesetzt wird, wurde mehrfach wissenschaftlich belegt und führt innerhalb von kürzester Zeit zu einem veränderten Bewusstseinszustand, der mit dem Kleiner-Mensch-Syndrom aufräumt.[ii]

Innerhalb von ein bis zwei Minuten werden tiefe Atemzüge absolviert, bei denen maximal und aktiv eingeatmet, aber nur leicht und passiv ausgeatmet wird. Durch diese extreme Hyperventilation wird der Körper mit Sauerstoff gesättigt und von Kohlendioxid befreit, was eine Verschiebung des pH Wertes und daran gekoppelte neurologische Prozesse, wie die Ausschüttung von körpereigenen Opiaten und Cannabinoiden, nach sich zieht.

Nach einem Durchgang von je dreißig tiefen Atemzügen wird die Luft angehalten, bis sich der Atemreflex wieder bemerkbar macht. Das gesamte Prozedere wird für einige Durchgänge wiederholt. Vor allem die bis zu vierminütigen Atempausen bestechen durch eine tiefe Veränderung der Psyche: Gedankengänge kommen zum Erliegen, tiefe innere Ruhe stellt ein und ein Anschließen an das größere Ganze passiert nahezu automatisch. Innerhalb von weniger als fünfzehn Minuten wird ein tiefer meditativer Zustand getriggert, der von der Realität des Kleiner-Mensch-Syndroms wenig übrig lässt.


Vom Ich zum Wir

Der zweite Schritt muss auf eine andere Art und Weise bewerkstelligt werden, da er außerhalb unseres unmittelbaren Einflussbereichs liegt. Wir erfahren uns zum Beginn des 21. Jahrhunderts als hoch individualisierte Menschen, in tendenziell eng gesteckten Grenzen von Ethnien, Religionen und Nationalstaaten. Wir sind Milliarden von mehr oder weniger isolierten Einzelpersonen, die in einer globalisierten Welt leben, auf deren Komplexität wir als Einzelne kaum Einfluss nehmen können.

Was wir benötigen, ist ein gesamtgesellschaftlicher Bewusstseinswandel vom Ich zum Wir, in dem wir uns auch in unserem Alltagsbewusstsein als Teil einer globalen Weltgemeinschaft empfinden, denn nur als solche können wir die globalen Probleme unserer Zeit überwinden. Dies gilt insbesondere, da unsere Interessen und die Interessen des Ökosystems von unseren politischen Führungskasten offensichtlich nur unzureichend umgesetzt werden, sprich, es uns niemand abnehmen wird.

Vorbei sind die Zeiten, in denen alteingesessene politische Parteien diese Rolle übernehmen konnten. Parteien und Berufspolitiker sind wohl kaum in der Lage, sich von ihren Abhängigkeiten von Gebern, Wirtschaft und Wählerstimmen zu lösen. Und noch einen Schritt weiter, es muss die Frage gestellt werden, ob die erforderliche Veränderungen in den Schranken und Glaubenssätzen unseres gegenwärtigen politischen Systems überhaupt umsetzbar ist. Benötigt es nicht vielmehr ein System, dass auf der Basis der Gemeinschaft ruht und von dieser getragen wird?

Für mich sind die zentralen Akteure des dringend erforderlichen Wandels wir, die Menschen. Alle Macht geht vom Volke aus. Eine Graswurzelbewegung mit einem neuen Selbstbewusstsein und Selbstverständnis des Wir muss entstehen, die sich außerhalb des alten Systems bewegt, unbeeindruckt von seinem begrenzten und begrenzenden Horizont. Und nur eine globale Bewegung wird in der Lage sein, so viel Druck auszuüben, dass ihre Stimme gehört wird und zur Veränderung führt.

Initiativen dieser Art, die die Begrenzung alter Systeme hinter sich gelassen haben, haben friedliche und kriegerische Revolutionen befeuert, in jüngerer Vergangenheit den Zusammenbruch des Ostblocks bewirkt und den arabischen Frühling initiiert. Und auch wenn die Geschichte zeigt, dass das Alte stets seinen Widerhaken setzt, ist die transformatorische Kraft der Gemeinschaft der entscheidende Schlüssel für die notwendigen Veränderungen.

Naturgegebenermaßen liegt die Geburt einer globalen politischen Bewegung außerhalb unseres direkten, persönlichen Einflussbereichs. Es braucht andere, Milliarden Menschen sogar, wenn wir von einer globalen Bewegung sprechen und das scheint bei aller Notwendigkeit dann doch zu unrealistisch oder gar utopisch.

An diesem Punkt: Willkommen übrigens zurück in der Welt des Kleiner-Mensch-Syndroms - mit seiner größten Herausforderung und seinem größten Fallstrick. Was es für den Schritt braucht, ist etwas, was uns im Kleiner-Mensch-Syndrom fremd ist - das blinde Vertrauen, dass wir nicht allein, sondern Teil einer Gemeinschaft sind und das andere, wie wir, ebenfalls in den Startlöchern stehen.

Es gibt nur zwei Möglichkeiten - die Resignation oder die Entscheidung, trotzdem weiter zu gehen. Das Wir kann nicht erzwungen werden und uns bleibt erst einmal nichts, als allein zu starten - im Vertrauen darauf, dass auch andere ihre Hausaufgaben machen und an einem hoffentlich nicht allzu fernen Tag die kritische Masse überschritten wird und die Initialzündung stattfindet.

Bis dahin ist stete Psychohygiene gefragt, die intensiv mit dem Kleiner-Mensch-Syndrom aufräumt. Und es ist die Stunde, in der wir im Außen mit der Arbeit beginnen müssen. Eine globale Bewegung braucht gute Ideen, die Vernetzung untereinander und gewachsene Strukturen. Jeder sitzt an seiner Schlüsselstelle und hat die Fäden selbst in der Hand.

Was wir hierfür ganz praktisch tun können, kann jeder nur für sich selbst herausfinden. Wir alle haben unterschiedliche Qualifikationen, Ressourcen und Ideen und all diese müssen sich bündeln. Jeder von uns kann nur damit starten, seinen persönlichen Masterplan zu entwickeln, unabhängig davon, wie der Masterplan des Grashalms von gegenüber aussieht.

Jetzt und hier ist der Zeitpunkt dafür, den Terminkalender zu zücken und eine halbe Stunde Zeit für ein erstes Brainstorming einzuräumen. Nicht Konsumieren von Ideen, sondern das selbst kreativ werden ist erforderlich: Was tue ich schon? Welche Ideen habe ich sonst noch? Mit wem kann ich mich kurzschließen? Welche Anlaufstellen kann ich ansteuern? Wann werde ich was im Detail angehen?

Und gleichzeitig - bei aller persönlichen Kreativität - kann all dies in dem Bewusstsein geschehen, dass es schon viele Ideen gibt, die man aufgreifen kann, dass man Teil des großen Ganzen ist und das Rad nicht allein und neu erfinden muss.


Das Diktat der Notwendigkeit und Vernunft

Schritt Drei ist eine insbesondere für uns Individualisten schwer zu schluckende, jedoch unumgängliche Kröte. Bei allem Vertrauen in die Einsichtsfähigkeit des Einzelnen, benötigen wir bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Klimakatastrophe vollständig abgewendet ist oder die Menschheit als Gesamtheit die Fähigkeit zur Besonnenheit erworben hat, eine ökopolitische Führung, die uns allen einem Diktat der Notwendigkeit und Vernunft unterstellt und gleichzeitig der Menschlichkeit verpflichtet ist.

Im Angesicht des drohenden ökologischen Kollaps werden die erforderlichen Anstrengungen immens und die notwendigen Einschnitte für uns alle schmerzhaft sein. Ohne Frage wird es weh tun, jedem auf seine Weise und jeder von uns wird dennoch seinen Beitrag leisten müssen. Wenn wir es ernst meinen mit der Rettung unserer Welt, kommen wir nicht umhin, uns und unseren Lebensstil grundsätzlich und nachhaltig zu wandeln.

Diese erforderlichen Veränderungen betreffen alle Lebensbereiche, unsere Mobilität, die Art wie wir wohnen, unsere Familienplanung, unsere Urlaubsgewohnheiten, unsere Ernährung. All dies auf eine Art die wir uns wahrscheinlich noch nicht recht ausmalen können. Und diese Veränderungen betreffen im großen Maßstab insbesondere uns Menschen im Westen, die wir den größten ökologischen Fußabdruck hinterlassen und an den höchsten Lebenskomfort gewöhnt sind.

Es liegt in unserer menschlichen Natur, dass sich selbst die Einsichtigsten und Progressivsten unter uns sträuben werden, wenn Einschnitte im Alltag spürbar werden und sich Verzicht auf der persönliche Ebene manifestiert. Hinzu kommt, dass der Einzelne nicht zu jedem Zeitpunkt die Gesamtheit aller Notwendigkeiten verstehen und mittragen wird. Und dennoch, im Hinblick auf die Dringlichkeit der Sache und die Folgen eines für uns alle lebensbedrohlichen Scheiterns, müssen sie umgesetzt werden.

Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, plädiere ich für den Aufbau einer unabhängigen politischen Instanz, die die Anstrengungen auf persönlicher Ebene und die kollektive Graswurzelbewegung durch eine von oben nach unten wirkende Führungsstruktur ergänzt - eine Führungsstruktur, die alle Ebenen und Akteure - vom einfachen Bürger bis zum Nationalstaat, von Kleinunternehmerin bis zum global agierenden Konzern - ethisch-ökologisch bindenden Regeln unterwirft und deren Einhaltung mit aller gebotenen Härte überwacht und einfordert.

Eine solche ökopolitische Führung muss von einer beschlussfähigen Mehrheit von Menschen mitgetragen werden und sollte durch eine basisdemokratische Bewegung der Massen und nicht im Rahmen eines parlamentarischen Systems initiiert werden. Zu groß sind die Verstrickungen der alteingesessenen Politikerkaste mit Wirtschaft und Lobbygruppen und der Selbsterhaltungstrieb des Establishments.

Anstelle der politischen Elite sollte die Führung gewählten Vertretern des Volkes aus allen Schichten für begrenzte Zeit anvertraut werden. Es gibt hier bereits gut durchdachte Ansätze und einige Präzedenzfälle, die zeigen, dass Politik effizienter wird, wenn nicht Profipolitiker, sondern Krankenschwestern, Landwirte, Rechtsanwälte und Verkäuferinnen sie aktiv mitgestalten können. Das Rad muss nicht neu erfunden, sondern nur bewegt werden.

Das Experiment der Isländer, die sich eindrücklich einer solchen basisdemokratischen Methode beim ihrem Verfassungsreferendum im Jahr 2012 bedienten, verdeutlicht, wie ausgereift verschiedene Ansätze wie „Crowdsourcing“ bereits sind und vor allem, dass diese in der Praxis gut funktionieren. Es zeigt aber auch die Macht der alteingesessenen politischen Kräfte, die das Referendum am Ende entgegen den Volkswillen kippten.[iii]

Die zentrale Aufgabe einer solchermaßen gebildeten Taskforce ist nichts geringeres als der Entwurf eines globalen Masterplans zur Abwendung drohender Umweltschäden und dessen vollständige Umsetzung. Zwei zentrale Fragen müssen ganz pragmatisch beantwortet werden: Welche Veränderungen und Herangehensweisen sind notwendig oder von der Vernunft geboten? Wie können diese Veränderungen und Herangehensweisen unter Wahrung der Menschenrechte umgesetzt werden?

Diese Führungsinstanz wird mit mehr finanziellen Mitteln und Befugnissen ausgestattet sein müssen, als jede Organisation vor ihr, um ihrer Aufgabe unabhängig von ökonomischen Zwängen und Verpflichtungen nachgehen zu können. In letzter Konsequenz benötigt sie mehr Macht, als andere politische, wirtschaftliche, kulturelle oder religiöse Interessengruppen, um unabhängig von deren Einflussnahme zu agieren. Die Einbettung in ein strenges System von „Checks and Balances“ ist erforderlich.

Es stellt sich die Frage, ob eine solch immense Verschiebung der Machtverhältnisse durch die gegenwärtig Mächtigen ohne Gegenwehr hingenommen wird. In einem sehr bedrohlichen Sinne ist davon auszugehen, dass uns stürmische Zeiten bevor stehen. Auch hier kann dem wohl nur ein globaler Schulterschluss der Menschheit die Stirn bieten. Dennoch: in Anbetracht der Zeit, die uns zwischen den Fingern zerrinnt, müssen wir endlich damit beginnen, in großem Maßstab aufzubegehren.


Protest und Widerstand

Ich bin überzeugt davon, dass wir nur durch Gemeinsamkeit und Zusammenschluss das Ruder herum reißen können. In dieser Zeit des ökologischen Niedergangs können wir uns nicht darauf verlassen, dass unsere wahren Interessen von den Mächtigen vertreten werden. Geld und Macht sind zur treibenden Kraft geworden und gleichzeitig das Ziel allen Handelns.

Einzelne Menschen, Gruppierungen und Organisationen können viel erreichen, der Macht der Konzerne, des Geldadels und der Drahtzieher im Hintergrund haben sie, wenn sie nicht zusammenarbeiten und sich die Massen mobilisieren, kaum etwas entgegenzusetzen. Auf der anderen Seite sind wir unendlich viele - gegenwärtig fast acht Milliarden Menschen, abzüglich des einen Prozents. Und dieser Kraft kann und wird keine Autorität der Welt entgegenstehen.

Ich sehe nur zwei mögliche Szenarien. Das erste Szenario wird davon bestimmt, dass wir nichts tun, wieder in den Tiefschlafzustand des Kleiner-Mensch-Syndroms zurückzufallen und wider besseren Wissen weiter abwarten. Wählen wir diesen Weg, machen wir uns schuldig - schuldig durch Unterlassung - an uns selbst, den nachfolgenden Generationen und der gesamten Erde mit all ihren Lebewesen.

Am Ende trägt jeder von uns, ob wir das nun wollen oder nicht, jetzt und hier die volle Verantwortung und wenn wir diesen Weg beschreiten, nehmen wir, bewusst oder unbewusst, die Zerstörung des Ökosystems billigend in Kauf. Das Absägen des Astes, auf dem wir sitzen, ist nur eine billige Metapher, die dem Ernst der Lage nicht im Ansatz gerecht wird. Der Pfad des Nichthandelns endet über kurz oder lang bestenfalls in der globalen Katastrophe, schlimmstenfalls im totalen Untergang. Machen wir uns dies ein für alle Mal bewusst: Niemand wird es uns abnehmen!

In einem zweiten Szenario erheben wir uns. Wir übernehmen unsere Verantwortung, nehmen die Herausforderungen an und geben sie nicht mehr her, bis wir wieder Boden unter den Füßen und umfassende Lösungen für unsere hausgemachten ökologischen Probleme parat haben. Dieser Weg ist kein leichter, eine Kultur des öffentlichen Einstehens erfordert viel Kraft, Klarheit und Konsequenz und vor allem das Verlassen der Komfortzone, in der wir alle uns eingerichtet haben.

Protest und Widerstand kann friedlich oder mit kriegerischen Mitteln erfolgen. Nicht ohne Grund existiert der Ausspruch „der Zweck heiligt die Mittel“ und man kann, wenn man möchte, die Dinge so vereinfachen. Ohne Frage gab es in der Geschichte der Menschheit wiederholt Zeiten und Orte, in denen der aktive Kampf mit Waffengewalt zum Umsturz von ganzen Systemen geführt und wichtige Wendepunkte in der Geschichte markiert hat. Die Frage, die sich jedoch stellt, lautet, ob wir diesen Weg beschreiten wollen und ob er zielführend ist.

Denn auch der oft darin begründete Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt begleitet die Menschheit seit jeher. Vielleicht besteht noch die Chance, einen anderen Weg zu wählen. Einen Weg der Schläue, der Vernunft, der größten Erfolgsaussichten bei gleichzeitig geringsten Verlusten und Kollateralschäden. Gesucht ist ein Weg, der uns am Ende entlässt, ohne dass wir uns allzu schuldig gemacht haben. Bei dem wir uns am Ende in die Augen schauen können und uns unsere Menschlichkeit bewahrt haben.

Was wir jedoch dringend benötigen und sogar kultivieren müssen, ist die Kraft, die in einem solchen aktiven Kampf steckt und ihn vorantreibt. Sie ist Antrieb und Basis von Protest und Widerstand. Es muss uns wieder zur täglichen Aufgabe werden, unbequem zu sein, Nein zu sagen, zu boykottieren und uns öffentlich zu empören, es nicht mehr länger zu schlucken, sondern aufzubegehren.

Wir müssen das öffentliche Ärgernis sein, der Stachel im Fleisch der bequemen Zustände, wohl wissend, dass dies für uns persönlich und unser Umfeld unbequem ist. Wir scheren aus der Herde aus und sowohl Herde als auch Hütehunde werden irritiert sein. Wir werden Unbehagen, Angst und Aggression auslösen. Wir werden Gefühle verletzten, an Weltbildern rütteln und mit Ärger darüber konfrontiert sein. Und dennoch dürfen wir nicht zurückstehen, die Zeit des Zurückstehens ist vorbei.

Das was im Kleinen geschieht, ist im Großen als Bewegung erforderlich - eine globale Anstrengung des zivilen Protests, die sich auf das Fundament der Gewaltlosigkeit stellt und nicht abweicht oder Kompromisse eingeht, bevor die Forderungen nach einem ökologischem Richtungswechsel vollständig erfüllt sind. Bewegungen dieser Art waren in der Vergangenheit erfolgreich und haben Systemwechsel herbeigeführt, ohne dass es zu Blutvergießen kam.

Auf der anderen Seite ist der Weg des Protests trotzdem kein ungefährliches Unterfangen. Gefahr besteht für jeden Einzelnen besonders in einer Phase, in der die kritische Masse noch nicht erreicht und der Rückhalt durch die anderen noch nicht gegeben ist. Der Prager Frühling, die Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und viele andere Beispiele zeigen, wie weit die Machthabenden zu gehen bereit sind, um Stabilität und Ordnung aufrechtzuerhalten.

Der friedliche Protest kennt verschiedene Mittel des Widerstands, angefangen bei Petitionen, Eingaben und Gesuchen, mit denen öffentliche Stellen und Verantwortliche überschwemmt werden, über öffentlichen Protest, Streiks und Demonstrationen, bis hin zum manifesten passiven Widerstand und zivilen Ungehorsam. In jeder größeren Stadt existieren Bewegungen und Anlaufstellen, wo man sich mit anderen, gleichgesinnten Menschen vernetzen kann.

Alle Akte des persönlichen und gemeinschaftlichen Protests gehören in den öffentlichen Raum und sollten auch hier adressiert werden. Sie müssen vernehmlich und deutlich genug artikuliert sein, um ausreichend Aufmerksamkeit zu erregen. Die Grundregeln von Anstand, Respekt und Gewaltlosigkeit müssen auch dann gewahrt werden, wenn das Gegenüber dies nicht in gleicher Weise tut.

Nicht zuletzt wird in unserer Welt, die so gänzlich auf dem Fundament des Kapitals fußt, insbesondere der Konsumboykott ein wirksames Mittel sein, um dem so ausschließlich am Gewinn ausgerichteten System Standpunkte und rote Linien zu verdeutlichen. In unserer Zeit, in der wir durch das Internet miteinander verbunden sind, ist die Initiation und Koordination von globalen und global wirksamen Aktionen effektiv und einfach umzusetzen. Es liegt hier ein großer Teil unserer Macht begründet, mit der wir jene in die Knie zwingen können, die zwar heute die Plätze an der Spitze der Nahrungskette besetzen, jedoch voll von uns, der Basis, abhängig sind.


System Reset

Die globalen, ökologischen Herausforderungen fordern einen grundlegenden Wandel unseres Selbstverständnisses und Umgangs mit unserer Umwelt. Wir befinden uns an einem potenziellen Totpunkt der Menschheitsgeschichte, weil wir in der Vergangenheit die Weichen in diese Richtung gestellt und versäumt haben, unsere menschlichen Werte und unsere Befähigung zur Vernunft in ein funktionierendes System zu übersetzen.

Ich will damit nicht sagen, dass unser System mit seinen Akteuren grundlegend „schlecht“ ist, dies wäre eine viel zu einseitige Betrachtungsweise, die der Komplexität unserer Welt nicht gerecht wird. Es wird natürlich auch getragen von guten Ideen und Lösungsversuchen auf allen Ebenen, von persönlicher Mühe und Aufopferung und dem tiefen Wunsch, Stabilität, Wohlstand und Sicherheit für uns alle zu schaffen. Menschen in Schlüsselpositionen treffen täglich gute Entscheidungen und dies gehört in jedem Falle gewürdigt.

Und gleichzeitig gilt: Das gegenwärtige System ist in Gänze nicht konsequent dem Gemeinwohl verpflichtet, sondern arbeitet den Machtinteressen globaler Konzerne, der Wirtschaft, Nationalstaaten und den Superreichen zu. Es bereitet den perfekten Boden für Umweltverschmutzung, den Raubbau an Ressourcen und nicht zuletzt der Klimaerwärmung. Ohne einen Reset dieses Systems - im Angesicht unseres drohenden Untergangs - werden alle angemahnten Veränderungen fruchtlos bleiben.

In diesem Sinne sind die vorangestellten Strategien wichtige Teilschritte, die letzten Endes aber einen grundlegenden Systemwandel, von der Orientierung an Macht und Geld hin zum Gemeinwohl vorantreiben müssen. In Anbetracht der Lage müssen wir mit sanfter Beharrlichkeit und ohne in die Falle der Gewaltspirale zu geraten, an diesem Ziel festhalten, bis es vollständig umgesetzt ist. Auch in der Vergangenheit waren strukturelle Wandel unumgänglich, dieses Mal steht jedoch mehr auf dem Spiel, als jemals zuvor.

Ein zukünftiges System wird sich einem Verhaltenscodex verpflichten und ethisch-ökologisch bindende Regeln definieren müssen. Im Zentrum kann nur das Wohl der Gemeinschaft und unseres Ökosystems stehen. Ein Paradigmenwechsel ist erforderlich, der aufräumt mit alten Machtstrukturen und egoistischen Interessen und der Profitgier und Machthunger konsequent abstraft.

Nicht zuletzt aus Gründen der Finanzierbarkeit von Forschung, dem Aufbau von umweltfreundlichen Infrastrukturen, der Wiederaufforstung und Renaturierung, kurz all den Schritten, die zu tun sind, um die Ökosphäre zu erhalten, ist ein erforderlicher Bestandteil dieses Wandlungsprozesses, die Ressourcen, die in der Hand so weniger liegen, an die Gemeinschaft zurück zu verteilen. Auch hier gilt es, Wege zu finden, dies ohne das Rollen von Köpfen zu bewerkstelligen.

Es ist dies die Zeit des Erwachsenwerdens der menschlichen Gemeinschaft, die beginnt, die Widersacher von Gemeinwohl, Menschlichkeit und Ökologie in die Pflicht zu nehmen, sie in ihre Schranken zu verweisen und zu Handeln im Sinne des Kollektivs zu erziehen. Die Zeit der Egoisten und Psychopathen, der Spaltung und der Herrschaft des Geldes ist abgelaufen, wenn wir die richtigen Entscheidungen fällen, zusammenstehen und gemeinsam voranschreiten.

Ein neues System sollte auf einer Philosophie wie der des Ubuntu aufbauen, welche die Erfahrung und das Bewusstsein, dass man selbst Teil des Ganzen ist, ins Zentrum rückt und die Verantwortung des Individuums innerhalb seiner Gemeinschaft betont. Die eigene Persönlichkeit und die Gemeinschaft stehen hier in enger, gelebter Beziehung.[iv]

Aus dieser Verflechtung ergibt sich eine Grundhaltung des gegenseitigen Respekts und der Anerkennung, gelebter Menschlichkeit und dem Bestreben nach einer Gesellschaft der friedlichen Koexistenz, in der alle Akteure durch ein universelles Band des Teilens verbunden sind und persönliche Interessen nicht über die Bedürfnisse der Gemeinschaft gestellt werden.

Gelingt uns dieser Wandel, ist der Boden bereitet für nachhaltige Veränderungsprozesse im Sinne des Ökosystems. Diese werden dann freiwillig von allen mitgetragen werden können und müssen nicht auf Zwang oder harten und vielleicht unmenschlichen Regeln beruhen, die aus schlichter Not und Notwendigkeit heraus geboren sind.

Es ist dies vielleicht der positive Aspekt am Scheideweg des ökologischen Kollaps: im Angesicht der Katastrophe bietet sich die größte Chance, über uns hinaus zu wachsen, die wir als Menschheit je hatten, auch, weil es wahrscheinlich unsere  letzte Chance ist und uns keine andere Wahl bleibt, wenn wir auf und mit diesem wundervollen Planeten Erde überleben wollen.


10 Punkte Plan

Der kurze Überblick ist als Checkliste zu verstehen. Es werden die zehn wichtigsten Punkte genannt, die jeder einzelne täglich auf persönlicher und kollektiver Ebene verändern kann, um sich dem drohenden ökologischen Kollaps entgegenzustellen:

1 …   Informieren und hinschauen
2 …  Reprogrammierungstechniken anwenden
3 …  Einen persönlichen Masterplan entwickeln
4 …   Allein starten, nicht auf die Anderen warten
5 …  Mit Anderen kurzschließen und vernetzen
6 …  Mit Organisationen und Anlaufstellen Kontakt aufnehmen
7 …   In öffentlichen Raum aktiv Stellung beziehen
8 …  Petitionen, Eingaben und Gesuche unterstützen
9 …  Gewaltlosen aktiven Protest üben
10 … Konsumboykott


Einhundert Affen

Ich möchte schließen mit dem Blick auf ein Forschungsprojekt, welches in den 1950er Jahren auf der japanischen Insel Kojima stattfand. Wissenschaftler beobachteten über Jahre hinweg eine Affenpopulation von Japanmakaken und machten diese mit den ihnen bis dahin unbekannten Süßkartoffeln vertraut.

Nachdem ein erstes innovatives Jungtier begonnen hatte, die Knollen vor dem Verzehr zu waschen, dauerte es nicht lang, bis nahezu die gesamte Gruppe diese neue Technik übernommen hatte. Schließlich wurde das Verhalten auch in Kolonien außerhalb der Insel beobachtet, wobei nicht geklärt werden konnte, ob und wie die an sich isolierten Affenpopulationen miteinander interagierten.[v]

Verschiedene Autoren benannten diesen Vorgang als das Phänomen des hundertsten Affen - der Affe mit dem die kritische Masse an Individuen überschritten wird und ein plötzlicher gesellschaftlicher Quantensprung stattfindet. Sie folgerten auch, dass Lebewesen über ein bisher noch nicht gänzlich verstandenes, allgegenwärtiges und alles umfassendes Feld miteinander in Verbindung stehen, dass zwar weit unter unserer alltäglichen Wahrnehmungsschwelle liegt, das Miteinander jedoch maßgeblich mit beeinflusst.[vi]

Und auch wenn sich die Aussage, des plötzlichen Entwicklungssprungs nicht halten ließ, weil diese Entwicklung der Populationen in Wahrheit eher allmählich stattfand und auch wenn die Hypothese des wissenden Feldes, über das die Affengruppen miteinander in Verbindung standen, durchaus streitbar ist, kann der Vorgang doch als Metapher für die Auswirkung der Veränderung des Einzelnen auf eine Gemeinschaft verstanden werden.

Mir persönlich macht diese Sichtweise Mut in dieser destruktiven Zeit. Wir können und müssen nicht alles leisten, sondern nur genau unseren Teil beitragen. Verändern wir uns, verändern wir die ganze Welt! Wir müssen auch nicht Alle sein, sondern lediglich die kritische Masse überschreiten, damit sich eine gesellschaftliche Veränderung manifestiert.

Die ersten Meter, die wir gefühlt allein zurück legen müssen, mögen mühselig sein, doch jeder der zu uns stößt, macht die Sache leichter und realistischer. Das Wir ist bereits Realität, ob wir das mit unserem Alltagsbewusstsein erfassen oder auch nicht. Jeder entscheidet für sich selbst und zusammen mit allen anderen darüber, welchen Weg wir einschlagen.

Ich glaube, die Zeit ist reif. Wir dürfen aufhören, uns hinter den anderen und hinter unseren vorgeschobenen Gründen zu verstecken. Es ist Zeit, die Rolle der Schaulustigen hinter uns zu lassen und aktiv unseren Willen, unsere Kreativität und unseren Enthusiasmus in die Welt zu tragen. Alles was es braucht, ist eine Entscheidung - jetzt und hier.


[i] Peak: Von ökologischen Grenzen und nachhaltigen Perspektiven, Michael Brose
[ii] www.youtube.com/watch?v=TM6WKeZ43s4
[iii] www.republik.ch/2018/09/05/warum-island-keine-eigene-verfassung-hat-eine-nordische-saga
[iv] Afrikas Ubuntu - Die Philosophie der Menschlichkeit, Bayern2 radioWissen 2019, Geseko von Lüpke
[v] https://de.wikipedia.org/wiki/Hundertster_Affe
[vi] https://de.wikipedia.org/wiki/Morphisches_Feld