In einer bedrohlichen Notsituation oder Krise reagiert der Körper unmittelbar auf ein auslösendes Ereignis/ Trauma und setzt eine vom Nerven- und Hormonsystem gesteuerte Kettenreaktion in Gang, die auf die Bewältigung der Notsituation ausgelegt ist. Es werden verschieden Körperreaktionen und psychische Phänomene hervorgerufen, die in diesem Artikel beleuchtet werden sollen.

Grundsätzlich ist die Stärke und das Ausmass der Angst- und Stressreaktionen von vielen individuellen Faktoren (Vorerfahrungen, subjektive Gefahrenbewertung, Grundkonstitution u.a.) abhängig. Prinzipiell gilt, dass jeder Mensch die selben intstinktiven "Notprogramme" in sich trägt, diese aber in unterschiedlicher Art und Weise zum Tragen kommen. Nicht zuletzt spielt natürlich besonders die eigentliche Entstehungs- oder Traumasituation eine wesentliche Rolle.

Besonders heftige Stressreaktion werden insb. durch folgende Faktoren getriggert: durch das zufällige Eintreten einer Notsituation, d.h. in Momenten, in denen man nicht mit einer Gefahr gerechnet hat, weiterhin, wenn die Zeitspanne zwischen dem Schreckerlebnis und dem Reagieren sehr kurz ist, wenn sich der/ die Betroffene durch schreckliche Gedanken noch weiter in die Angst steigert und wenn nur eine geringe Möglichkeit besteht, angemessen auf die Bedrohung zu reagieren, bzw. keine erlernten Verhaltensmechanismen zur Verfügung stehen, auf die zurück gegriffen werden kann. (1)
 

1. Grundlagen zur Stressregulation (2) 
 

Reizaufnahme

In einer bedrohlichen Situation wird jegliche Art von Stressor (z.B. Lärm, Schmerz, visuelle Reize) über die Sinnesorgane erfasst und als Information über aufsteigende Nervenfasern in Richtung der Amygdala/ Mandelkern (Teil des Limbischen Systems) im medialen Temporallappen weitergeleitet.
 

Verarbeitung im Gehirn

Die Amygdala ist wesentlich an der Entstehung von Angst beteiligt und spielt allgemein eine wichtige Rolle bei der emotionalen Bewertung und Wiedererkennung von Situationen, sowie der Analyse möglicher Gefahren. Sie verarbeitet die externen Impulse  und aktiviert wiederum verschiede stressrelevante Hirnareale, fungiert also als allgemeines Regulationszentrum für Stressreaktionen.

Über den Hypothalamus (das übergeordnete Regulationszentrum des vegetativen Nerven- und Hormonsystems) erfolgen die Aktivierung des Sympathikus (Stressnerv) und der stressrelevanten Hormone (über ACTH Ausschüttung). Durch die Verbindung mit der Formatio reticularis (Neuronennetzwerk im Stammhirn) wird eine allgemeine Reflexverstärkung angeregt. Weiterhin werden Hormone und Neurotransmitter (Dopamin, Noradrenalin, Acetylcholin, Endorphine) freigesetzt, die die Wachheit und Aufmerksamkeit fördern und Schmerzen unterdrücken.

Erst in zweiter Linie greift der Organismus auch auf die Funktionen des Cortex (Grosshirnrinde) zurück. Hierdurch werden eine bewusste Bewertung und die Analyse der Gefahrensituation ermöglicht und es entsteht ein vollständigeres Bild der Bedrohung.
 

Instinkt vs. Denken (3)

Es existieren also zwei nebeneinander bestehende Wege, deren Aktivierung vor allem davon abhängt, wie viel Zeit dem Organismus zur Verfügung steht, auf den Stressor zu reagieren. Der erstgenannte „instinkthafte“ Weg (auch bezeichnet als „niederer Weg“) unter Umgehung der Grosshirnrinde ermöglicht  eine sofortige, impulsartig-reflexhafte Reaktion in akuten Gefahrenlagen.

Der zweitgenannte Weg („hoher Weg“) über das Bewusstsein erfordert mehr Zeit, ermöglicht es jedoch, anspruchsvollere Fähigkeiten des Gehirns zu nutzen, Zusammenhänge herzustellen, Handlungen zu überdenken und intelligente Entscheidungen zu treffen.
 

Regulationskreisläufe und Einflussgrössen

Die darauf folgenden unmittelbaren Akutreaktionen des Körpers und der Psyche sind durch angeborene oder erworbene Reflexe, die Wirkung des sympathischen Nervensystems (Stressnerv) und die Aktivierung von Stresshormonen und Neurotransmittern (Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin, Cortisol, Endorphine) zu erklären. Nach Abklingen der Bedrohungssituation erfolgt die Hemmung der Stressreaktion ebenfalls vermittelt durch die Amygdala. (4)

Bei länger anhaltenden Belastungen führen darüber hinaus Faktoren wie körperliche Erschöpfung, Schlaf- und Nahrungsmangel, psychoreaktive Syndrome (dissoziative Störungen, akute Belastungsreaktion, reaktive Depression) und anhaltende Schmerzen zu körperlichen und psychischen Auswirkungen.
 

2.1. Akute körperliche Reaktionen (3, 5)
 

Schreckreaktion

Sofort und unmittelbar nach einem bedrohlichen Reiz (innerhalb der ersten 150 Millisekunden), schützt sich der Körper mit einer unbewussten, reflektorischen Schreckreaktion (Zusammenzucken), die vom Nervensystem vermittelt wird. Die Augen zwinkern, der Körper beugt sich nach vorn über, die Arme werden an den Körper gezogen, die Schulter-Nacken Muskulatur verhärtet sich, die Fäuste ballen sich und die natürlichen Schutzreflexe (Arme schützen Körper und Gesicht) werden aktiviert.
 

Allgemeine Wirkungsweise des Sympathikus

Parallel und nach Abklingen des Schreckreflex (Schrecksekunde) aktiviert der Sympathikus bestimmte  Zielorgane (Muskulatur, Herz und Gefässe, Bronchien, Augenmuskulatur, Haut und Schleimhaut) und bewirkt an anderen Zielorganen (v.a. Verdauungssystem) eine Hemmung derer Funktionen. Der gesamte Körper wird in einen hochwachsamen, reaktionsbereiten Zustand versetzt und auf seine evolutionären Reaktionsmechanismen Flucht oder Kampf vorbereitet. Die Schmerzwahrnehmung wird herabgesetzt.
 

Kreislauf + Stoffwechsel

Das Herz wird in seiner Schlagkraft und Frequenz angeregt, der Puls erhöht sich. Periphere Blutgefässe verengen sich, um eventuellen Blutverlust zu verhindern, während sich die Blutgefässe, die die Skelettmuskulatur versorgen erweitern. Mit dem erhöhten Blutvolumen wird vermehrt Sauerstoff und Glukose (Traubenzucker) zu den Muskelzellen transportiert, die diese benötigen, um zur Höchstform aufzulaufen.

Parallel dazu werden aus den körpereigenen Reserven (Leber, Muskulatur und Fettgewebe) Glukose und Fettsäuren freigesetzt, um dem Körper maximale Nährstoffzufuhr zu ermöglichen. Damit einhergehend, und um den Ablauf körpereigener chemischer Reaktionen zu beschleunigen, wird die Körpertemperatur erhöht. Starkes Schwitzen verhindert gleichzeitig die Überhitzung des Körpers.
 

Atmungssystem und Hyperventilationssyndrom

Die Bronchien erweitern sich, das Resultat ist eine gesteigerte Sauerstoffaufnahme in die Alveolen (Lungenbläschen), die Atemfrequenz beschleunigt sich stark. Aus den Speicherorganen (Milz, Leber) werden vermehrt Erythrozyten (rote Blutkörperchen) ausgeschwemmt, um die erhöhte Menge an Sauerstoff und Nährstoffe zu den aktivierten Zellen zu transportieren.

Die Atemfrequenz kann sich soweit steigern, dass ein akutes Hyperventilationssyndrom hervorgerufen wird. Gepaart mit Todes-/ Erstickungsangst treten hierbei als Folge einer vorübergehenden  Verschiebung im Blutkalziumspiegel, Krämpfen der Muskulatur und Taubheitsgefühle im Lippenbereich und an den Extremitäten auf. Diese Symptome verschwinden nach Normalisierung der Atmung von selbst. (6)
 

Verdauungstrakt

Gleichzeitig wird die gesamte Verdauungstätigkeit heruntergefahren, die Blutversorgung von Magen und Darm wird minimiert, unwesentliche Funktionen werden aufgegeben. Mastdarm und Blase können sich reflektorisch entleeren. Die Drüsensekretion im gesamten Magen-Darm-Trakt wird vermindert, im Mundbereich ist dies häufig spürbar als Mundtrockenheit. Akute Bauchschmerzen, -krämpfe und Erbrechen können auftreten.
 

Weitere äussere Zeichen

Äusserlich sichtbar ist eine Erweiterung der Pupillen. Dieses verstärkt den Lichteinfall und damit die Sehfunktion. Die Haare der Epidermis richten sich auf (Gänsehaut), was dem Aufplustern von Vögeln und dem Aufrichten der Nackenhaare von bestimmten Säugern entspricht, die somit grösser wirken und dem Feind Wehrhaftigkeit signalisieren. Spür- und sichtbar kann ein durch die Anspannung hervorgerufenes Zittern des Körpers werden. Im Extremfall kann dieses bis zur Bewegungsunfähigkeit führen.
 

2.2. Akute psychische Reaktionen (3)
 

Wachsamkeit und Angst

Auch auf der psychischen Ebene finden sich zahlreiche Veränderungen, die von Person zu Person in unterschiedlicher Abstufung ausfallen können. Mit Beginn der Krise werden im Gehirn, angeregt durch die Amygdala, Neurotransmitter freigesetzt, die mit den körperlichen Veränderungen der oben aufgeführten Kampf-Flucht-Reaktion korrespondieren und mehr oder minder intensive Angstgefühlen hervorrufen. Diese führt zu einer stark erhöhten Wachsamkeit gegenüber der Gefahr und wird als Realangst bezeichnet. Unter Umständen beobachtet man aber auch das gegengesetzte Phänomen, die völlige Angstfreiheit.
 

Blackout und Denkblockaden

Während ein geringer Spiegel an Stresshormonen den Körper insgesamt leistungsfähiger macht, führt ein Übermass an Adrenalin und Noradrenalin im Gehirn über Blockierung der Nervenkontakte (Synapsen) innerhalb kürzester Zeit zu Blackouts, Sinnesstörungen und Denkblockaden. (7) Diese Symptome werden der ersten Phase der „Akuten Belastungsreaktion“ zugeordnet. Die betroffene Person wirkt wie betäubt und scheint wichtige Aspekte der Situation nicht zu bemerken oder führt Handlungen durch, die unangebracht oder völlig sinnlos erscheinen. Unter diesen Gegebenheiten kann es schwierig werden, selbst einfachste Gedankengänge (z.B. Fluchtwege abwägen, Anleitung eines Feuerlöschers verstehen) und Handlungen (bspw. Abschnallen nach Autounfall, Schwimmweste anlegen) zu vollziehen.
 

Einflüsse auf die  Leistungsfähigkeit = Glockenphänomen

Die Abhängigkeit dieser intellektuellen Leistungsfähigkeit (auch Sinnesleistung und motorische Fähigkeiten) vom allgemeinen Erregungs-/ Stresszustand des Organismus, wird als Glockenphänomen bezeichnet. Gemessen anhand der Pulsfrequenz (ebenfalls unmittelbar von den Stresshormonen bestimmt) wird dieser Zusammenhang besonders deutlich.

Der Anstieg des physiologischen Ruhepulses von 75 führt zu einer deutlichen Leistungszunahme. Im Bereich von 115 bis 145 Schlägen findet sich das Leistungsoptimum, mit beschleunigten Reaktionen, deutlicherem Sehen und höchsten komplex-motorischen Fertigkeiten. Jenseits der Grenze von 145 Schlägen verschlechtern sich auf allen Ebenen rapide die Leistungen, bis hin zum völligen Ausfall.
 

Wahrnehmungsveränderung

Überdurchschnittlich häufig treten in Notsituationen Wahrnehmungsveränderungen verschiedener Art auf. Hierzu zählen Veränderungen im Bereich des Sehens, bspw. gesteigerte Sehfähigkeit, der Tunnelblick (Einschränkung des Sehfelds), das Auftreten von Doppelbildern oder unscharfes Sehen.

Auch im Bereich des Hörens lassen sich ähnliche Phänomene beobachten, z.B. gedämpfte oder gesteigerte Wahrnehmungen, das Tunnelgehör, also die selektive Wahrnehmung/ Ausblendung einzelner Geräusche.

Diese Wahrnehmungsveränderungen werden unter dem Begriff der Dissoziation zusammengefasst und haben wahrscheinlich den biologischen Hintergrund, die Aufmerksamkeit auf die unmittelbare Gefahrenquelle zu fokussieren bei gleichzeitiger Ausblendung alle anderen störenden Reize. Ähnliche Phänomene lassen sich auch im Bereich der Körperwahrnehmung (Betäubtheit, Kribbeln) und Motorik (Lähmungserscheinungen) beobachten.
 

"Totstellreflex"

In maximaler Ausprägung resultieren dissoziative Phänomene im Verlust einzelner Körperfunktionen - vorübergehenden Blindheit, vorübergehenden Taubheit oder auch der vollständiger Lähmungen einzelner Körperteile, bis hin zur Bewegungsunfähigkeit des gesamten Körpers, bei erhaltenem Bewusstsein.

Diesen Zustand könnte man dem „Totstellreflex“ zuordnen, der eine weitere Option für den Organismus darstellt. Als evolutionsbiologische Option dient diese Reaktion vermutlich dazu, sich gegenüber dem Angreifer durch Verharren „unsichtbar“ zu machen oder einem angreifenden Tier eine Krankheit vorzutäuschen, und so dem Gefressen-werden zu entgehen.
 

Psychische Dissoziation (8)

Auch auf psychischer Ebene findet die Dissoziation als klassische Furchtreaktion ihre Entsprechung. Typische Symptome sind Fehlwahrnehmungen in Bezug auf die Zeit (Verlangsamung, wie in Zeitlupe) und das Realitätsempfinden im Allgemeinen. Betroffene beschreiben das Gefühl der Distanziertheit, das Geschehen wirkt unwirklich, verzerrt, surreal oder wie im Traum/ in einem Film.

In gesteigerter Form kann dieses bis zum Verlust der „Selbstwahrnehmung“ (z.B. dissoziative Fugue) oder Bewusstseinsverlust führen oder ausserkörperlichen Erfahrungen hervorrufen. Der Mensch bedient sich hier wohl seiner letzten Abwehrmethode, er dissoziiert im wahrsten Sinne des Wortes, entfremdet sich von sich selbst, um nicht an den übermächtigen, bedrohlichen Eindrücken zu zerbrechen.
 

3.1. Längerfristige körperliche Reaktionen (9)
 

Akute und chronische Krankheiten

In längerfristigen Notsituationen können situationsabhängig oder auch -unabhängig zahlreiche akute Erkrankungen (z.B. Erfrierungen, Herzinfarkt, Vergiftungen, Blinddarmentzündungen) auftreten. Bereits bestehende chronische Krankheiten (bspw. Diabetes mellitus, Zahnherdvereiterung, Alkoholismus) werden sich im Laufe der Zeit vermutlich verschlimmern und u.U. den Tod nach sich ziehen. Auf eine Darstellung dieser speziellen Krankheitsbilder wird hier verzichtet, allgemeine häufig auftretende körperliche Reaktionen sollen jedoch kurz betrachtet werden.
 

Schlafstörungen

Häufig lassen sich Veränderungen des Schlafs beobachten. Hierzu zählen bspw. Einschlafschwierigkeiten, aber auch häufiges nächtliches Erwachen. Kennzeichnend ist ein unruhiger Schlaf, halbwaches Hin- und Herwerfen und heftiges Schnarchen. Alpträume können auftreten, welche als Anpassungs- und Verarbeitungsreaktion des Traumas verstanden werden können. Ein übermässiges Schlafbedürfnis kann ein erstes Symptom einer sich anbahnenden reaktiven Depression darstellen.
 

Muskuläre Spannungen

Weiterhin treten häufig muskuläre Spannungszustände auf, die auf einen erhöhten Grundtonus der Muskulatur zurückzuführen sind. Ursächlich sind hier wohl ungewöhnliche körperliche Aktivitäten, aber auch die sich einstellenden Veränderungen im Hormonsystem (Stresshormone, Schilddrüsenhormone). Häufige Symptome, die aus der Anspannung resultieren sind Spannungskopfschmerzen, Rückenschmerzen und Krämpfe.
 

Körperliche Schwäche

Auch im Magen-Darm-System finden sich typische Erscheinungen. Bedingt durch die hormonelle Umstellung auf die Stresssituation und aufgrund der psychischen Belastung, kann es zu Appetitlosigkeit und verminderter Nahrungsaufnahme kommen.

Die daraus resultierenden längerfristigen Effekte wie Gewichtsverlust und der übermässige Verbrauch körpereigener Reserven schwächen den Körper zusätzlich (gleiches gilt für Situationen mit echtem Nahrungsmangel). Wenn irgend möglich sollte auch entgegen dem (fehlenden) eigenen Hunger- oder Durstgefühl gegessen bzw. getrunken werden.
 

Kreislaufbeschwerden

Bedingt durch die allgemeine Schwäche, Erschöpfung und Unterzuckerung können gehäuft Schwindelgefühle, Schwarzwerden vor Augen und Ohnmachtsanfälle auftreten. Gelegentliches Herzstolpern als Angstfolge, Unruhe, Druck- und Engegefühle in der Brust sind weitere Symptome, die sich im Herz-Kreislauf-System beobachten lassen.
 

3.2. Längerfristige psychische Reaktionen (9, 10) 
 

Abnahme der intellektuellen Leistungsfähigkeit

Besonders starke körperliche Erschöpfung und Übermündung führen in länger anhaltenden Notsituationen zu nachhaltigen Veränderungen der Leistungsfähigkeit. Gedankliche Prozesse sind im Allgemeinen verlangsamt und es bestehen Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit zu fokussieren.

Komplexe Aufgaben fordern mehr Zeit und werden zunehmend schlechter bewältigt, es findet sich eine Tendenz zur Flucht in Routinearbeiten. Häufig besteht Unvermögen, die Initiative zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen und Prioritäten richtig zu gewichten. Offensichtliche Kleinigkeiten werden überbewertet und es wird viel Zeit auf unwesentliche Details verwendet.
 

Übererregbarkeit

Andererseits kann das Durchleben einer längerfristigen Notsituation auch zu einer starken Überaufmerksamkeit führen, bei der eigentlich normale Stimuli als Gefahr interpretiert werden. Betroffene neigen zu Überreaktionen ohne kritisches Hinterfragen und schrecken bei kleinen Reizen (insb. Schlüsselreizen) auf. Eine körperlich fühlbare Erregung, die sich bis zur Ruhelosigkeit steigern kann und bspw. im ziellosen Umherwandern zeigt, ist häufig noch lange nach dem eigentlichen Trauma beobachtbar.
 

Emotionale Schwankungen

Eine ähnliche Übererregbarkeit findet sich auch im emotionalen Empfinden und Ausdruck. Sie reicht von reizbaren Reaktionen auf normale, alltäglich Kommentare oder Vorfälle, zornigen Blicken, spitzen Bemerkungen, verbalen Überreaktionen bis hin zu aggressiven, gewalttägigen Ausbrüchen nach kleinsten Anlässen und kann das Gruppengefüge nachhaltig strapazieren.

Typisch sind Empfindungen von allgemeiner Ängstlichkeit oder Wut nach oder im Durchleben einer Notsituation. Diese äussern sich bspw. in Todesangst, Verlust des Selbstvertrauens, Gefühlen der Verwundbarkeit oder mitunter einem Gefühl der „Überlebensschuld“ gegenüber Getöteten. Relativ geringe Frustrationen können zu Wein- und Heulattacken führen.

In dieser zweiten Phase der „Akuten Belastungsreaktion“ sind insb. die starken emotionalen Schwankungen der Betroffenen auffällig. Ausgeprägte Trauer kann sich innerhalb kurzer Zeit mit Wut oder Aggression oder scheinbarer Teilnahmslosigkeit abwechseln. (11)
 

Dissoziative Symptomatik (11)

Dissoziative Phänomene, die sich bereits im Durchleben des Traumas auf körperlicher und psychischer Ebene eingestellt hatten, können zusammen mit anderen Phänomenen über Tage bis Wochen anhalten. In dieser Verarbeitungsphase der „Akuten Belastungsreaktion“ kommt es häufig zum unkontrollierten Wiedererleben der Ereignisse, in Form von Albträumen oder sich aufdrängende Erinnerungen (Flashbacks).

Man kann davon ausgehen, dass intensive Dissoziationssymptome während des belastenden Ereignisses, nachhaltige Langzeitfolgen nach sich ziehen („Posttraumatische Belastungsstörung“).
 

Reaktive Depression/ depressive Reaktion (12)

Viele Betroffene erleben innerhalb von Tagen bis Wochen nach dem traumatischen Ereignis eine Phase, in denen sie von einer unerklärlichen Emotionslosigkeit (Gefühl der Gefühllosigkeit) oder aber massiver Traurigkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ergriffen sind. Dieser Zustand geht einher mit einem niedrigen Energielevel, Antriebslosigkeit, einer verminderten Fähigkeit klar zu denken und starken Schlafstörungen (exzessives Schlafverlangen oder Schlafschwierigkeiten).

Dieses, früher als „Reaktive Depression“ bezeichnete Krankheitsbild, kann als Schutzmechanismus gegen schmerzvolle Wahrnehmungen interpretiert werden und ist die direkte Folge des niederschmetternden Erlebnisses. „Was-wäre-wenn“ Gedanken kreisen im Kopf und verstärken Tendenzen von innerem Rückzug und sozialer Isolation. Die Betroffenen wirken nach aussen häufig bewegungslos, mit maskenartigem Gesichtsausdruck und müssen u.U. als akut selbstmordgefährdet unter Beobachtung gehalten werden.
 

Quellen

(1) Psychologie des Überlebens - Röder, Minich - S. 31
(2) http://de.wikipedia.org/wiki/Amygdala
(3) Survive: Katastrophen - Wer sie überlebt und warum, Ripley - S. 100 ff.
(4) http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/id/60545/
(5) Naturheilpraxis Heute, Bierbach (Hrsg.) - S. 985 ff.
(6) Hyperventilationstetani - Pschyrembel Klinisches Wörterbuch
(7) http://www.archlab.tuwien.ac.at/w252/uni21/reder/www/biological.html
(8) Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie, Lieb, Frauenknecht, Brunnhuber - S. 277 ff.
(9) http://www.au.af.mil/au/awc/awcgate/usmc/mcrp611c.pdf
(10) Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie, Lieb, Frauenknecht, Brunnhuber - S. 262 ff.
(11) http://de.wikipedia.org/wiki/Akute_Belastungsreaktion
(12) Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie, Lieb, Frauenknecht, Brunnhuber - S. 255 ff.